Das europäische Recht nimmt immer größeren Einfluss auf unsere Gesetzgebung und Gesetzesanwendung. Die folgende Übersicht dient dazu, dem Bürger als Rechtsanwender anhand praktischer Anwendungsfälle aus dem Arbeitsrecht zu veranschaulichen, wie europäisches Recht und deutsches Recht ineinandergreifen und welchen Regelungsmechanismen die beiden Rechtsordnungen im Verhältnis zueinander unterworfen sind.
Das europäische Recht nimmt immer größeren Einfluss auf unsere Gesetzgebung und Gesetzesanwendung. In den letzten Jahren war eine zunehmende Kompetenzverlagerung in der Weise zu verzeichnen, dass die Europäische Union vermehrt Rechtsbereiche für harmonisierungsbedürftig empfindet und entsprechende Regelungen erlässt. Gerade im Privatrecht und hier in besonderem Maße im Arbeitsrecht wird es zunehmend schwerer, das nationale Recht losgelöst von europäischen Vorgaben zu verstehen. Die folgende Übersicht dient dazu, dem Bürger als Rechtsanwender anhand praktischer Anwendungsfälle aus dem Arbeitsrecht zu veranschaulichen, wie europäisches Recht und deutsches Recht ineinandergreifen und welchen Regelungsmechanismen die beiden Rechtsordnungen im Verhältnis zueinander unterworfen sind.
Deutschland hat die Europäische Union völkerrechtlich dazu legitimiert, in begrenztem Umfang für die Bundesrepublik Regelungen zu schaffen, die geeignet sind, unmittelbare Wirkung in Deutschland zu entfalten. Die damit verbundene Begrenzung der eigenen Souveränität geht jedoch nur so weit, wie es die hierfür geschaffenen Verträge, der EUV (Vertrag über die Europäische Union) und der AEUV (Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union), zulassen (sog. Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung). Für das Arbeitsrecht als Teilbereich der Sozialpolitik weist der AEUV der Union eine umfassende Regelungskompetenz zu. Das führt dazu, dass die Union nahezu jeden Bereich des Arbeitsrechts mit Ausnahme des Arbeitskampfrechts und Bestimmungen zum Arbeitsentgelt regeln kann. Von dieser Kompetenz wird zunehmend Gebrauch gemacht.
Verantwortlich für die Rechtsetzung der Europäischen Union sind der Rat sowie das Europäische Parlament. Demgegenüber wacht der Europäische Gerichtshof (EuGH) über die Anwendung und Auslegung des Unionsrechts. Dieser wird insbesondere angerufen, wenn es Klärungsbedarf hinsichtlich der Auslegung europäischer Bestimmungen gibt. Nationale Gerichte können sich im Wege des sog. Vorabentscheidungsverfahren an den EuGH wenden, wenn Zweifel bestehen, in welchem Sinn europäisches Recht zu interpretieren ist. Die Vorlage von Auslegungsfragen an den EuGH ist im europäischen Integrationsprozess ungemein wichtig, weil nur so gewährleistet wird, dass die europäischen Regelungen in den verschiedenen Mitgliedstaaten einheitlich angewandt werden. Außerdem sind gerade Richtlinien nicht selten recht allgemein gehalten, sodass eine Konkretisierung vielfach erst durch den EuGH erfolgt.
Als Beispiel kann der kleine Bereich des Urlaubsrechts dienen, der in einer europäischen Richtlinie (RL 2003/88/EG) nur in einem Satz erwähnt ist. Aus diesem Satz hat der EuGH jedoch ganze Strukturelemente entwickelt, die nahezu jeden Bereich des deutschen Urlaubsrechts beeinflussen und Anpassungen notwendig machen. Weil der EuGH hierdurch europäisches Recht laufend fortentwickelt, wird er auch als Motor der europäischen Integration bezeichnet.
Die Entscheidungen des EuGH sind verbindlich, sodass die Mitgliedstaaten die vom EuGH getroffenen Maßstäbe zur Grundlage ihrer eigenen Bewertung machen müssen. Eine Grenze verläuft erst dort, wo der EuGH und/oder der Europäische Gesetzgeber die ihm durch den AEUV und den EUV zugewiesenen Kompetenzen offensichtlich und qualifiziert überschritten hat.
Auf diese Weise beeinflussen die Entscheidungen des EuGH in der Zwischenzeit die Anwendung von nationalen Normen zunehmend und überall dort, wo deutsches Recht in den Anwendungsbereich von Unionsrecht fällt. Wann dies der Fall ist, soll nachfolgend dargestellt werden.
Auf europäischer Ebene muss unterschieden werden zwischen dem sog. Primärrecht und dem Sekundärrecht. Das Primärrecht als „Verfassung der EU“ steht hierbei auf höchster Stufe und ist verbindlicher Maßstab sowohl für das aus ihm abgeleitete Sekundärrecht als auch für das nationale Recht der Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Demgegenüber wird das Sekundärrecht von den Organen der EU erlassen und dient in diesem Sinne als Konkretisierung der aus dem Primärrecht abgeleiteten Zielbestimmungen. Damit ist das Verhältnis von Primär- zu Sekundärrecht vereinfacht ausgedrückt mit dem Verhältnis unserer Verfassung zu einfachem Gesetzesrecht zu vergleichen: Das einfache Gesetzesrecht leitet sich aus unserer Verfassung ab und hat den Vorgaben derselben zu entsprechen.
Das Primärrecht enthält die Grundprinzipien der EU und definiert so einen übereinstimmenden Wertekanon. Teil des Primärrechts sind vor allem die Gründungsverträge der Europäischen Union, also der EUV und der AEUV. Diese enthalten vorrangig Zielvorstellungen der Integrationspolitik und Kompetenzvorschriften darüber, in welchen Bereichen die Union mit Wirkung für die Mitgliedstaaten handeln darf. Seit Inkrafttreten der Charta der Grundrechte (GRC) im Jahr 2009 ist auch diese Teil des Primärrechts. Die Grundrechtecharta enthält einen umfassenden Katalog über die unverzichtbaren Unions-Grundrechte.
Hinsichtlich der Frage, welche Wirkungen das Primärrecht auf das deutsche Recht hat, muss zwischen den verschiedenen Quellen des Primärrechts unterschieden werden, hierbei vor allem zwischen dem EUV/AEUV und der Grundrechtecharta:
Die im EUV und der AEUV enthaltenen Vorschriften stecken ganz überwiegend einen allgemein gehaltenen Kompetenzrahmen ab, der für den Einzelnen keine unmittelbar einklagbaren Rechte begründet.
Wird zum Beispiel nach Art. 153 AEUV der Union die Kompetenz zugewiesen, Maßnahmen zum Schutz der Gesundheit der Arbeitnehmer zu erlassen, ist damit zunächst nur das rechtspolitische Anliegen verbunden, entsprechende Regelungen zu erlassen. Einklagbare Ansprüche für den Unionsbürger entstehen demgegenüber erst, wenn die Union in Umsetzung dieser Zielvorstellungen Regelungen getroffen hat, zum Beispiel durch den Erlass von Richtlinien auf sekundärrechtlicher Ebene (dazu unten).
Es gibt jedoch Bereiche im AEUV, die inhaltlich so konkret gefasst sind, dass Unionsbürger hieraus unmittelbare Rechte herleiten können. Das gilt namentlich für die sog. Grundfreiheiten, d.h. die Warenverkehrsfreiheit, die Arbeitnehmerfreizügigkeit, die Niederlassungsfreiheit, die Dienstleistungsfreiheit und die Kapitalverkehrsfreiheit.
So garantiert Art. 45 AEUV die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der EU. Dies dient dem Zweck, EU-Arbeitnehmer innerhalb der EU unterschiedslos zu behandeln. Wenn nun zum Beispiel ein Unternehmen in Südtirol als Bewerbungsvoraussetzung die Vorlage eines bestimmten Diploms verlangt, welches ausschließlich in Südtirol erworben werden kann, dann beeinträchtigt dies ausländische Bewerber in unangemessener Weise. Ein Bewerber könnte sich vor Gericht unmittelbar auf seine Arbeitnehmerfreizügigkeit berufen mit der Folge, dass das verlangte Diplom nicht mehr zu einer Bewerbungsvoraussetzung gemacht werden darf.
Auch die Grundrechtecharta kann unmittelbar Einfluss auf nationales Recht nehmen und mögliche Verletzungen können vor nationalen Gerichten geltend gemacht werden. Verstößt ein Mitgliedstaat gegen die Grundrechtcharta, dann darf entgegenstehendes nationales Recht nicht angewandt werden. Das gilt aber nur im Hinblick auf solche Bestimmungen, die hinreichend bestimmt und konkret sind. Davon kann insbesondere dann ausgegangen werden, wenn es um Verbote geht. Die Verbote sind also bildlich ausgedrückt ein Stoppschild, welches von den Mitgliedstaaten unbedingt zu beachten ist.
So ist zum Beispiel nach Art. 32 GRC Kinderarbeit verboten. Sollte ein Mitgliedstaat hiergegen verstoßen, könnte sich ein Unionsbürger unmittelbar auf die Grundrechtecharta berufen, um das Verbot durchzusetzen.
Solche Bereiche der GRC, die lediglich einen Gestaltungsauftrag enthalten, der inhaltlich nicht hinreichend bestimmt ist, können nicht unmittelbar eingeklagt werden. In diesen Fällen kann der Unionsbürger gegebenenfalls Entschädigung von seinem Staat verlangen, wenn dieser in verschuldeter Weise seiner Pflicht zur Umsetzung nicht nachgekommen ist.
Beispiel: Art. 31 Abs. 2 der Grundrechtecharta garantiert jedem Arbeitnehmer das Recht auf bezahlten Jahresurlaub. Die Ausgestaltung dieses Auftrags bedarf jedoch einer Konkretisierung durch den EU-Gesetzgeber oder die Mitgliedstaaten. Daher könnte sich ein Arbeitnehmer nicht unmittelbar auf Art. 31 der GRC berufen, wenn sein Mitgliedstaat gesetzliche Regelungen über einen Mindesturlaub nicht vorsieht. Möglicherweise kann er aber von dem Mitgliedstaat eine Entschädigung dafür verlangen, dass dieser gegen Unionsgrundrechte verstoßen hat.
Die Wirkung der der Grundrechtecharta soll abschließend an folgendem Beispiel verdeutlicht werden:
Beispiel: § 622 BGB enthält Regelungen über die maßgeblichen Kündigungsfristen in Arbeitsverhältnissen. Nach dessen Absatz 2 S. 2 sollen Zeiten einer Beschäftigung, „die vor der Vollendung des 25. Lebensjahrs des Arbeitnehmers liegen“, nicht auf die Berechnung der Kündigungsfrist angerechnet werden. Ist ein 30-, 40- oder 50-Jähriger also kontinuierlich in einem Arbeitsverhältnis beschäftigt, werden Beschäftigungszeiten, die er vor dem 25. Lebensjahr erbracht hat, nicht auf die Kündigungsfrist angerechnet.
Nun verbietet Art. 21 der Grundrechtecharta unter anderem Diskriminierungen aufgrund des Alters. Dieses eindeutige Verbot führt dazu, dass solche nationalen Regelungen unangewendet bleiben müssen, die gegen dieses Verbot verstoßen.
Einen solchen Verstoß stellt z.B. die Regelung des § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB dar, weil es keine Rechtfertigung dafür gibt, dass Beschäftigungszeiten unter 25 Jahren pauschal nicht angerechnet werden. Zwar ist es im Grundsatz legitim, älteren Arbeitnehmern längere Kündigungsfristen zuzubilligen, weil jüngere Arbeitnehmer in der Tendenz schneller wieder in den Arbeitsmarkt integriert werden können. Von § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB sind aber auch ältere Arbeitnehmer betroffen, sofern sie schon vor Vollendung des 25. Lebensjahres bei dem gleichen Arbeitgeber beschäftigt waren, denn auch in diesen Fällen werden vorherige Arbeitszeiten nicht angerechnet. Dies führt zu einer nicht gerechtfertigten Benachteiligung dieser Beschäftigungsgruppe.
Als Folge des Verstoßes gegen die Grundrechtecharta darf § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB in Deutschland nicht mehr angewendet werden. Das gilt unabhängig von dem Umstand, dass die Norm nach wie vor im Gesetz steht.
Als Sekundärrecht werden solche Rechtsakte angesehen, die unmittelbar von den Organen der EU erlassen werden. Hierzu gehören unter anderem Verordnungen, Richtlinien, Beschlüsse, Empfehlungen und Stellungnahmen, wobei vor allem die Verordnungen und Richtlinien von Bedeutung sind.
Verordnungen sind das mächtigste Rechtssetzungsinstrument der Europäischen Union, weil sie unmittelbar und zwingend, d.h. ohne dass es einer entsprechenden Umsetzung im nationalen Recht bedarf, wirken. Damit sind sie in ihrer Wirkungsweise vergleichbar mit einfachgesetzlichen Regelungen, die der deutsche Gesetzgeber erlassen hat. Sie führen allerdings dazu, dass den Mitgliedstaaten keine Spielräume bei der Umsetzung gelassen werden und so auf etwaige länderspezifische Besonderheiten keine Rücksicht genommen werden kann.
Als Beispiel für eine Verordnung kann die Verordnung (EG) Nr. 178/2002 zur Festlegung der allgemeinen Grundsätze und Anforderungen des Lebensmittelrechts dienen, die allgemeine Standards des Lebensmittelrechts definiert, die für alle Mitgliedstaaten der EU verbindlich sind.
Richtlinien haben gegenüber Verordnungen den Vorteil, dass sie den Mitgliedstaaten Umsetzungsspielräume belassen. Das Procedere bei der Verabschiedung und Umsetzung von Richtlinien verläuft zweistufig. Zunächst verabschiedet der Europäische Gesetzgeber eine Richtlinie, die konkrete Vorgaben hinsichtlich einer bestimmten Regelungsmaterie enthält und richtet damit einen sog. Umsetzungsauftrag an die Mitgliedstaaten. Innerhalb der Umsetzungsfrist müssen die Mitgliedstaaten dann die Vorgaben der Richtlinie in ihr eigenes Recht umsetzen. Dies geschieht im Regelfall entweder durch die Anpassung bestehender oder durch die Verabschiedung neuer Gesetze.
Im Arbeitsrecht gibt es in der Zwischenzeit viele Richtlinien, die das Arbeitsleben von Arbeitnehmern in Deutschland und der Europäischen Union nachhaltig prägen.
Nur beispielhaft zu nennen sind die Richtlinie 96/34/EG zum Elternurlaub; die Richtlinie 97/81/EG zur Teilzeitarbeit; Richtlinie 98/59/EG über Massenentlassungen, die Richtlinie 99/70/EG über befristete Arbeitsverträge, die Richtlinie 2001/23/EG zum Betriebsübergang oder die Richtlinie 2003/88/EG v. 4. 11. 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung, unter anderem mit Bestimmungen zum Urlaubsanspruch.
Weil es das Wesen von Richtlinien erfordert, dass sie in nationales Recht umgesetzt werden, entfalten sie anders als Verordnungen und hinreichend bestimmten Teile des Primärrechts in aller Regel keine unmittelbaren Wirkungen im nationalen Recht. Kommt ein Mitgliedstaat seiner Pflicht zur Umsetzung der Richtlinie nicht nach, muss das Gericht in der Ausgangssituation weiterhin die deutsche Norm anwenden. Somit kann sich der Unionsbürger grundsätzlich nicht unmittelbar auf die Richtlinie berufen, um dessen Inhalt einzuklagen. Er kann jedoch – sofern der Verstoß hinreichend qualifiziert ist – Entschädigungsansprüche gegen den seine Umsetzungspflicht vernachlässigenden Mitgliedstaat geltend machen. Auch droht dem Mitgliedstaat seitens der EU ein sog. Vertragsverletzungsverfahren, als dessen Folge empfindliche Strafen erlassen werden können.
Allerdings kann die Richtlinie mittelbar Wirkung auch für den Einzelnen entfalten. Dies liegt daran, dass ein deutsches Gericht bei der Anwendung der eigenen Gesetze verpflichtet ist, soweit möglich die Vorgaben einer Richtlinie zu berücksichtigen. Das gilt unabhängig davon, ob der deutsche Gesetzgeber zur Umsetzung einer Richtlinie tätig geworden ist. Sobald ein deutsches Gesetz Bereiche regelt, die auch eine Richtlinie regelt, muss das Gericht versuchen, die Vorgaben der Richtlinie umsetzen, was immer dann möglich ist, wenn das Gesetz entsprechende Interpretationsspielräume eröffnet. Dies nennt man Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung.
Die Reichweite dieser Pflicht hängt davon ab, in welchem Umfang die nationale Bestimmung Spielräume eröffnet, d.h. ob sie eher eng oder weit gefasst ist. Immer dann, wenn der Wortlaut, also das einfache Textverständnis eine entsprechende Interpretation zulässt, ist eine richtlinienkonforme Auslegung leicht zu bewerkstelligen. Der Wortlaut ist hierbei jedoch keine Grenze: Selbst wenn es das einfache Textverständnis nicht mehr hergibt, ist ein deutsches Gericht zur Interpretation der Norm im Sinne der europäischen Vorgaben verpflichtet, sofern dies nicht in ausdrücklichem Widerspruch zu den Zielen des Gesetzes steht. Wo die Grenzen dieser sogenannten richtlinienkonformen Rechtsfortbildung, also der Interpretation einer Norm über deren eigentliches Textverständnis hinaus, verlaufen, wird sehr kontrovers beurteilt. Hierbei ist auch das Prinzip der Gewaltenteilung zu beachten, weil der Richter Gesetze nicht mehr nur anwendet, sondern vielfach weiterentwickelt, um den europäischen Anforderungen zu genügen.
Diese den deutschen Gerichten zuerkannte Möglichkeit der Rechtsfortbildung führt dazu, dass es dem Bürger als Rechtsanwender zunehmend schwerer fällt, deutsche Gesetze bei unbefangener Betrachtungsweise zu verstehen. Dies soll nachfolgendes abschließendes Beispiel veranschaulichen:
Beispiel: § 7 des Bundesurlaubsgesetzes (BUrlG) enthält Bestimmungen dazu, wie mit dem Urlaubsanspruch eines Arbeitnehmers zu verfahren ist, wenn er ihn im laufenden Jahr nicht nehmen konnte. Danach ist es dem Arbeitnehmer unter besonderen Umständen, z.B. wenn er krank war, gestattet, den Rest-(Urlaub) ins nächste Jahr zu übertragen. Spätestens Ende März des Folgejahres soll der Urlaub jedoch verfallen, wie der Normtext klar zum Ausdruck bringt: „Im Fall der Übertragung muss der Urlaub in den ersten drei Monaten des folgenden Kalenderjahres gewährt und genommen werden“. Das bedeutet, dass spätestens am 1. April der Urlaubsanspruch aus dem Vorjahr erlischt, sofern nicht mit dem Arbeitgeber eine anderweitige Absprache getroffen wurde.
Diese Regelung hält der EuGH für europarechtswidrig. Er ist der Auffassung, dass ein solches Verständnis gegen die Richtlinie 2003/88/EG verstößt. Nach deren Art. 7 sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, jedem Arbeitnehmer einen bezahlten Mindestjahresurlaub von vier Wochen zu ermöglichen. Dem widerspräche es, wenn der Urlaubsanspruch eines Arbeitnehmers, der aufgrund von Erkrankungen außerstande war, den ihm zustehenden Jahresurlaub geltend zu machen, ersatzlos erlösche. Denn in solchen Fällen habe der erkrankte Arbeitnehmer keine Möglichkeit, in den Genuss des Urlaubsanspruches zu kommen. Daher müsse in solchen Fällen der krankheitsbedingt nicht wahrgenommene Urlaub bewahrt werden. Auch der EuGH erkennt aber Grenzen an: Nach seiner Auffassung soll es möglich sein, dass der Urlaubsanspruch 15 Monate nach Ablauf des Kalenderjahres verfällt. Woher der EuGH diese Wertungen nimmt, die sich schwerlich aus der Richtlinie ableiten lassen, ist nicht in jeder Hinsicht nachvollziehbar. Sie ist aber verbindlich für das deutsche Recht.
Das Bundesarbeitsgericht hat die Rechtsprechung des EuGH zum Anlass genommen, § 7 BUrlG nunmehr im Sinne der Vorgaben des EuGH zu verstehen. Es war dazu auch verpflichtet, denn die vorgenommene richtlinienkonforme Rechtsfortbildung ist Teil der Verpflichtung, die europäischen Vorgaben umfassend zur Geltung zu bringen. Nunmehr können solche Arbeitnehmer, die krankheitsbedingt die ihnen zustehenden Urlaubsansprüche nicht geltend machen konnten, dies 15 Monate nachholen. Erst Ende März des Folge-Folgejahres erlischt der so angesammelte Urlaubsanspruch, Urlaubsansprüche aus dem Jahr 2015 somit Ende März 2017.
Ein solches Verständnis kann man § 7 Abs. 3 BUrlG bei unbefangener Betrachtungsweise nicht entnehmen. Richtigerweise müsste man die Norm nunmehr wie folgt lesen: Im Fall der krankheitsbedingten Übertragung muss der Urlaub in den ersten 15 Monaten des folgenden Kalenderjahres gewährt und genommen werden“.
Europäisches Recht beeinflusst deutsches Recht in zunehmender Weise. Mitgliedstaaten sind an solche Bestimmungen des Primärrechts gebunden, die in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fallen und hinreichend bestimmt sind, um daraus konkrete Vorgaben ableiten zu können. Verstößt eine nationale Bestimmung in so einem Fall gegen eine hinreichend bestimmte primärrechtliche Vorschrift und kann die nationale Norm auch nicht in einer Weise ausgelegt werden, die primärrechtskonform ist, darf sie nicht angewendet werden. Das kann dazu führen, dass in einem Rechtsstreit von Privaten untereinander eine für den Rechtsstreit relevante Norm nicht angewandt werden darf, weil sie gegen primärrechtliche Bestimmungen, z.B. das Diskriminierungsverbot verstößt. Auf diese Weise nimmt das Primärrecht Einfluss auch auf private Rechtsstreitigkeiten.
Verordnungen als Teil des Sekundärrechts wirken unmittelbar in den Mitgliedstaaten und bedürfen keiner weiteren Umsetzung. Demgegenüber wirken Richtlinien in aller Regel nicht unmittelbar. Sowohl der Gesetzgeber als auch die Gerichte sind aber verpflichtet, die Vorgaben der Richtlinie umzusetzen. Der Gesetzgeber tut dies im Regelfall durch die Anpassung bestehender oder den Erlass neuer Gesetze. Kommt der Gesetzgeber aber seiner Pflicht zur Umsetzung nicht oder nur unzureichend nach, sind es die Gerichte, die die bestehenden Gesetze im Wege richtlinienkonformer Auslegung oder Rechtsfortbildung möglichst im Einklang mit den europäischen Vorgaben interpretieren müssen. Dabei darf das Gericht einer nationalen Norm auch ein Verständnis zugrunde legen, welches über deren Wortlaut hinausgeht, solange der Zweck der Richtlinie dem Zweck der nationalen Bestimmung nicht zuwiderläuft. Wo hier die aus dem Gewaltenteilungsprinzips abgeleitete verfassungsrechtliche Grenze verläuft, ist noch nicht abschließend geklärt. Die Verpflichtung der Gerichte der Mitgliedstaaten zu einer umfassenden Würdigung der europarechtlichen Anforderungen bei der Anwendung und Auslegung der nationalen Gesetze führt jedoch dazu, dass Europarecht inzwischen in nahezu alle Rechtsbereiche hineinwirkt.
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