Die Flüchtlingsumverteilung in der Europäischen Union

Ein Beitrag von Jochen Schöfthaler

20.07.2022

Am 6. September 2017 erließ der EuGH ein vielbeachtetes Urteil[1], wonach Ungarn und die Slowakei sich nicht gegen Quoten zur Umverteilung von Flüchtlingen zur Wehr setzen können. Im Folgenden soll das Urteil zusammengefasst und ein Ausblick auf die politischen und rechtlichen Handlungsoptionen gegeben werden.

A. Einführung

Zur Bewältigung der Flüchtlingskrise im Spätsommer 2015 erließ der Rat der Europäischen Union einen Beschluss, wonach 120.000 Personen von den schwerpunktmäßig betroffenen Staaten Griechenland und Italien auf die übrigen Mitgliedstaaten verteilt werden sollten. Dies betraf lediglich Personen, die unzweifelhaft internationalen Schutz benötigten und sollte die in besonderem Ausmaß betroffenen südlichen Mitgliedstaaten angesichts des erheblichen Zustroms entlasten und unterstützen. Rechtsgrundlage für den Beschluss war der wie folgt lautende Art. 78 Abs. 3 AEUV:

Befinden sich ein oder mehrere Mitgliedstaaten aufgrund eines plötzlichen Zustroms von Drittstaatsangehörigen in einer Notlage, so kann der Rat auf Vorschlag der Kommission vorläufige Maßnahmen zugunsten der betreffenden Mitgliedstaaten erlassen. Er beschließt nach Anhörung des Europäischen Parlaments.

Gegen den Beschluss wendeten sich Ungarn und die Slowakei, die wie die Tschechische Republik und Rumänien gegen den Beschluss gestimmt hatten. Die Klage stützte sich auf mehrere – nicht durchgreifende – Argumente. So wurde zum einen die gewählte Rechtsgrundlage des Art. 78 Abs. 3 AUEV, zum anderen die Erforderlichkeit des Beschlusses gerügt.

Auf Klägerseite trat schließlich Polen, auf Seiten des Rates traten Belgien, Deutschland, Frankreich, Griechenland, Italien, Luxemburg, Schweden und die EU-Kommission unterstützend bei.

 

B. Urteil des EuGH

Der EuGH wies die Klagen ab. Zum einen sei kein besonderes Gesetzgebungsverfahren einzuhalten gewesen. Zum anderen gebe Art. 78 Abs. 3 AEUV das Recht zum Erlass eines entsprechenden Umverteilungsbeschlusses.

I. Formelle Rechtmäßigkeit

1. Gesetzgebungsverfahren

Ungarn hatte vorgetragen, das im Beschluss vorgesehene Erfordernis einer Anhörung des EU-Parlamentes sei eine Form der Beteiligung nach Art. 289 Abs. 2 AEUV, welche dazu führe, dass das besondere Gesetzgebungsverfahren einzuhalten sei. Ein Rechtsakt könne nur dann als Gesetzgebungsakt der Union eingestuft werden, wenn er auf Grundlage der Bestimmung der Verträge angenommen wurde, die ausdrücklich auf das ordentliche Gesetzgebungsverfahren oder das besondere Gesetzgebungsverfahren Bezug nimmt. Da Art. 78 Abs. 3 AEUV lediglich eine Anhörung des Parlamentes vorsieht, jedoch nicht auf das ordentliche oder besondere Gesetzgebungsverfahren verweist, gelten auch keine entsprechenden Anforderungen an das Gesetzgebungsverfahren.[1]

2. Verstoß gegen Gesetzgebungsakte

Darüber hinaus gingen die Kläger davon aus, dass Art. 78 Abs. 3 AEUV keine taugliche Rechtsgrundlage gewesen sei, da durch den Beschluss von Gesetzgebungsakten abgewichen werden sollte, er allerdings selbst keinen Gesetzgebungsakt darstelle. Gemeint ist Erwägungsgrund 23, welcher unter anderem die vorübergehende Aussetzung des Art. 13 Abs. 1 der Dublin-III-Verordnung vorsehe. Der EuGH hält eine Abweichung von Rechtsakten für möglich. Entscheidend gehe es im Rahmen von Art. 78 Abs. 3 AEUV nämlich um den vorübergehenden Charakter der Rechtsakte. Solange die Abweichung von Rechtsakten zeitlich begrenzt und sich darauf beschränkt, schnell und effektiv durch vorläufige Regelung auf bestimmte Krisensituationen zu reagieren. Damit sei eine dauerhafte und generelle Umgehung des ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens ausgeschlossen. Unter dieser Maßgabe war die Verteilung von 120.000 Personen bei einem Beschluss, der nur zwei Jahre gelten sollte, keine Umgehung gegeben.[2]

3, „Plötzlicher Zustrom“

Das klägerische Vorbringen, wonach es sich nicht um einen „plötzlichen“ Zustrom gehandelt habe, wies der EuGH ebenfalls zurück. Plötzlich sei ein Zustrom demnach dann, wenn er einen solchen Umfang hat, dass er unvorhersehbar war. Dies gelte auch in einer Migrationskrise, die sich über mehrere Jahre erstreckt. Aus den unbestrittenen statistischen Daten folgert der EuGH einen starken Anstieg des Zustroms von Drittstaatsangehörigen insbesondere in den Monaten Juli und August 2015. Da den Unionsorganen ohnehin ein weites Ermessen bei der Beurteilung der Plötzlichkeit eingeräumt werden müsse, sei hier kein offensichtlicher Beurteilungsfehler gegeben.[3]

 

II. Materielle Rechtmäßigkeit

Hinsichtlich der materiellen Rechtmäßigkeit rügten die Kläger einen Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und die Genfer Konvention.

1. Verhältnismäßigkeit

a) Legitimes Ziel

Das Ziel des Beschlusses ist durch die Umsiedlung einer bedeutenden Anzahl von Antragstellern, die unzweifelhaft internationalen Schutz benötigen, Griechenland und Italien zu unterstützen und von dem erheblichen Druck auf ihren Asylsystemen zu entlasten. Entgegen des klägerischen Vorbringens sei der Beschluss dazu geeignet, zur Erreichung dieses Ziels beizutragen. Als Teil eines Maßnahmenbündels stärkt die Umverteilung zur Entlastung der Mittelmeerländer bei. Hiergegen könne nicht eingewandt werden, dass im Nachhinein tatsächlich nur eine geringe Zahl von Personen umgesiedelt wurde.[4] Maßgeblich sei nämlich die Beurteilung aus der ex ante Perspektive. Wenn der Unionsgesetzgeber künftige Auswirkungen einer zu erlassenden Regelung zu beurteilen hat, die sich nicht mit Bestimmtheit voraussagen lassen, kann seine Beurteilung nur beanstandet werden, wenn sie sich im Licht der Informationen, über die er zum Zeitpunkt des Erlasses der betreffenden Regelung verfügte, als offensichtlich fehlerhaft erweisen. Diesbezüglich ist dem Rat nichts vorzuwerfen.

b) Erforderlichkeit

Die Slowakei führte überdies an, das angestrebte Ziel habe durch mildere Mittel erreicht werden können, die weniger restriktiv gewesen wären und weniger stark in das Recht der Mitgliedstaaten eingegriffen hätten. Vorgeschlagen wurde hierfür:

(1) Eine Anwendung des in der Richtlinie 2001/55/EG (Mindestnormen für die Gewährung vorübergehenden Schutzes im Falle eines Massenzustroms von Vertriebenen und Maßnahmen zur Förderung einer ausgewogenen Verteilung der Belastungen, die mit der Aufnahme dieser Personen und den Folgen dieser Aufnahme verbunden sind)  vorgesehenen Mechanismus.

(2) Zur Erlangung notwendiger materieller Hilfe hätte das „Katastrophenschutzverfahren der Union“ eingeleitet werden können.

(3) Es hätte bei der Agentur Frontex eine Unterstützung in Form von Sofortmaßnahmen beantragt werden können.

(4) Außerdem hätten andere finanzielle, materielle, technische und personelle Unterstützungen an Italien und Griechenland erbracht werden können.

Der EuGH betont auch an dieser Stelle das insofern weite Ermessen des Rates und die „Notlage […] im Anschluss an einen noch nie dagewesen Zustrom von Migranten“. Da Verhandlungen über eine unverbindliche Verteilung nach langen Gesprächen fehlgeschlagen seien, kam eine verbindliche Verteilung durchaus in Betracht. In den Erwägungsgründen des angefochtenen Beschlusses führte der Rat bereits aus, dass zahlreiche Maßnahmen ergriffen worden seien, um Griechenland und Italien im Rahmen der Migrations- und Asylpolitik zu unterstützen. Da der Druck auf beide Länder allerdings fortbestand, wurde es als unerlässlich angesehen, gegenüber beiden Mitgliedstaaten Solidarität zu bekunden und die bisher ergriffenen Maßnahmen zu ergänzen.[5] Dem Rat könne somit auch angesichts der Dringlichkeit der Maßnahmen kein offensichtlicher Beurteilungsfehler vorgeworfen werden. Außerdem stellten die vorgeschlagenen milderen Mittel keine ausreichende Antwort auf die Notwendigkeit dar, den durch einen bereits eingetretenen Zustrom von Migranten verursachten Druck auf diese Systeme zu verringern. Es handle sich nämlich um ergänzende Maßnahmen, die dazu beitragen könnten, neue Migrantenströme besser zu bewältigen, die aber als solche keine Abhilfe für das bestehende Problem der Auslastung des griechischen und des italienischen Asylsystems durch bereits im Hoheitsgebiet dieser Mitgliedstaaten befindliche Personen schaffen könnten.

Außerdem führe der Umsiedlungsmechanismus nicht zu unverhältnismäßigen Belastungen für die Mitgliedstaaten. Alternativmaßnahmen wie die Erhöhung u. a. der technischen und finanziellen Mittel für die Mittelmeerstaaten verursachten nicht weniger Kosten als ein vorübergehender Umsiedlungsmechanismus.

Im Übrigen stellt der EuGH klar, dass die Argumentation, wonach manche Mitgliedstaaten „nahezu ethnisch homogen“ seien und sich deren Bevölkerung daher in kultureller und sprachlicher Hinsicht von den in ihr Hoheitsgebiet umzusiedelnden Migranten unterscheide, aus zweierlei Gründen unzulässig sei. Zum einen würde eine Verteilung der Migranten nach dem durch Art. 80 AUEV auferlegten Grundsatz der Solidarität unmöglich werden. Zum anderen lege durch eine Anknüpfung an die ethnische Herkunft der Migranten ein offenkundiger Verstoß gegen Unionsrecht, insbesondere Art. 21 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union vor.[6]

2. Genfer Konvention

Ungarn wendete gegen den Beschluss ein, er verstoße gegen die Genfer Konvention, da ein Antragsteller umgesiedelt würde, bevor über seinen Antrag entschieden wurde. Demnach ergebe sich aus der Genfer Konvention ein Recht, im Staat der Antragstellung zu bleiben, solange der Antrag anhängig ist. Dem tritt der EuGH entgegen. Dieser von Ungarn bemühte Grundsatz der Nichtzurückweisung sei so zu verstehen, dass es verboten sei, einen Antragsteller in einen Drittstaat abzuschieben, solange nicht über seinen Antrag entschieden wurde. Die hier in Rede stehende Überstellung im Rahmen der Umsiedelung eines Antragstellers von einem Mitgliedstaat in einen anderen dient dazu, die Prüfung seines Antrags binnen angemessener Fristen zu gewährleisten. Daher könne von einer Abschiebung in einen Drittstaat keine Rede sein. Vielmehr handle es sich um eine auf Unionsebene getroffene Maßnahme zur Krisenbewältigung, dass das in Art. 18 der Charta der Europäischen Union verankerte Recht auf Asyl unter Beachtung der Genfer Konvention wirksam ausgeübt werden kann.

3. Ergebnis

Der EuGH wies die Klage daher vollumfänglich ab. Der Beschluss wurde somit nicht für nichtig erklärt. Das Urteil ist rechtskräftig. Den Klägern stehen keine Rechtsmittel mehr zur Verfügung.

 

C. Handlungsoptionen

Das Urteil des EuGH wurde von der EU-Kommission und großen Teilen Westeuropas positiv aufgenommen. Demgegenüber standen jedoch Aussagen mancher osteuropäischen Regierungen. So äußerte der ungarische Ministerpräsident, dass aus dem Urteil nicht folge, dass „wir einfach hinnehmen müssten, mit wem wir zusammenleben sollen, denn darüber werden wir Ungarn selbst bestimmen.[7] […]  Die Einwanderungsländer wollen uns ihre Logik aufzwingen, aber wir haben niemanden zu uns eingeladen, wir wollen kein Einwanderungsland werden".[8] Sein Außenminister Szijjarto ergänzte „bisher haben wir einen juristischen Kampf geführt, jetzt müssen wir einen politischen Kampf führen".[9]

Kommissionschef  Junker hingegen erinnerte daran, dass die Urteile des Europäischen Gerichtshofs in allen Fällen zu respektieren seien. Dementsprechend hat die Kommission bereits am 26.09.2017 die nächste Stufe des Vertragsverletzungsverfahrens eingeleitet und der Tschechischen Republik, Ungarn und Polen eine mit Gründen versehene Stellungnahme übermittelt. Jedes dieser Länder hat gegen die im Urteil beschriebenen Pflichten verstoßen. Während die Tschechische Republik seit über einem Jahr keine Umverteilungsplätze zugesagt hat, wurde bislang noch keine Person nach Ungarn oder Polen umverteilt. Neben dem Vertragsverletzungsverfahren finden allerdings auch politische Verhandlungen statt. In weiten Teilen der Presse wird ein Ergebnis, wonach unwillige Mitgliedstaaten ersatzweise eine finanzielle Kompensation zu zahlen haben, bevorzugt.

Ein Entzug der Stimmrechte einzelner Mitgliedstaaten dürfte hingegen ausgeschlossen sein. Bereits die Einleitung des entsprechenden Verfahrens würde vier Fünftel der Stimmen im Rat, eine endgültige Entscheidung Einstimmigkeit erfordern. Dementsprechend könnte die Achse der unwilligen Mitgliedstaaten eine solche Entscheidung blockieren. 

 


 

[1] EuGH, Urt. v. 6. September 2018, ECLI:EU:C:2017:631, 11 f.

[2] EuGH, Urt. v. 6. September 2018, ECLI:EU:C:2017:631, 12 f.

[3] EuGH, Urt. v. 6. September 2018, ECLI:EU:C:2017:631, S. 15 f.

[4] EuGH, Urt. v. 6. September 2018, ECLI:EU:C:2017:631, S. 23.

[5] EuGH, Urt. v. 6. September 2018, ECLI:EU:C:2017:631, S. 26.

[6] EuGH, Urt. v. 6. September 2018, ECLI:EU:C:2017:631, S. 30 f.

[7] http://www.zeit.de/news/2017-09/08/migration-orban-sieht-trotz-des-eugh-urteils-keinen-handlungsbedarf-08103007.

[8] http://www.zeit.de/politik/ausland/2017-09/ungarn-viktor-orban-eugh-fluechtlinge-verteilung.

[9] http://www.n-tv.de/politik/Ungarn-wehrt-sich-weiterhin-gegen-Migranten-article20024149.html.