Wirtschaftssanktionen nach Art. 215 AEUV – ein scharfes Schwert?!

Ein Beitrag von David Krüger

15.07.2022

Ein Mittel der außenpolitischen Einflussnahme sind Sanktionen, die die EU gegen Drittstaaten verhängen kann, wenn diese gegen Völkerrecht verstoßen. Wann können diese Maßnahmen eingesetzt werden und wie wirkungsvoll sind sie?

I. Einleitung

Nach der kürzlich erzwungenen Landung eines Flugzeugs der Airline Ryanair durch den belarussischen Machtinhaber Lukaschenko sind Wirtschaftssanktionen der EU als Reaktion gegenüber Belarus wieder in aller Munde. Doch was sind die Voraussetzungen, die Wirtschaftssanktionen als Grundlage haben? Ist die Verfahrensweise der EU in außenpolitischen Fragen eine effektive? Dieser Aufsatz versucht, diesbezüglich einen ersten Überblick zu verschaffen und widmet sich in der Folge der politischen Frage, inwieweit eine einheitliche Abstimmung in der Außenpolitik weiterhin sinnvoll erscheint.

 

II. Grundlagen

Die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) umfasst die Ziele Friedenserhaltung, Stärkung der internationalen Sicherheit, Förderung der internationalen Zusammenarbeit sowie die Entwicklung und Konsolidierung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, einschließlich der Einhaltung der Menschenrechte und Grundfreiheiten.[1] Ausdruck der GASP ist es daher auch, gemeinschaftlich gegen Maßnahmen vorzugehen, die sich gegen die Ziele der Außen- und Sicherheitspolitik der EU richten.[2] Insoweit kann die EU im Rahmen ihrer diplomatischen Beziehungen zunächst in den politischen Dialog treten und versuchen, auf Dritte einzuwirken. Dies wird auch ein erster zielführender Weg sein, wenn ein gedeihliches Miteinander in der Weltpolitik angestrebt wird.

 

Allerdings muss zu einer handlungsfähigen völkerrechtlichen Einheit auch die Möglichkeit gehören, Zwang anzuwenden, um Ziele durchzusetzen. Diesen Weg kann sie insbesondere über wirtschaftliche Sanktionen gehen. Diese - in der Regel zwischenstaatlichen - Maßnahmen sind auch im Lichte des Völkerrechts zu betrachten. Bei EU-Sanktionen wird gemeinhin unterschieden zwischen solchen Sanktionen, die die EU „autonom“ beschließt, Sanktionen der Vereinten Nationen (VN), zu deren Umsetzung sie völkerrechtlich verpflichtet ist, und der Umsetzung bestehender VN-Sanktionen für die EU bei gleichzeitiger Erweiterung um eigene Listungen.

 

Wirtschaftliche Sanktionen von Staaten oder Völkerrechtssubjekten mit Staatscharakter werden dabei gemeinhin definiert als durch hoheitliche Maßnahmen im Bereich der Außenwirtschaft bewirkte wirtschaftliche Ungleichbehandlung, die als außenpolitisch motivierte Reaktion auf das Verhalten eines anderen Völkerrechtssubjektes erfolgt, um dieses durch Zufügen eines Nachteils zu einer Verhaltensänderung zu bewegen.[3] Aus der vorgenannten Definition ergibt sich für die Sanktion als solche der Ultima-Ratio-Charakter, den jeweils anderen Staat zu einem Handeln oder Unterlassen zu bewegen. Dabei ist die EU jedoch ausweislich ihrer Kompetenzen nicht lediglich darauf beschränkt, derartige Maßnahmen gegen Staaten zu verhängen, sondern kann auch Organisationen, Gruppen oder Vereinigungen und Einzelpersonen mit Maßnahmen belegen.

 

Die primärrechtlich in Art. 215 AEUV normierte Befugnisnorm zur Verhängung von Wirtschafts- und Finanzsanktionen wurde schon durch den Maastrichter Vertrag eingeführt und in den Vertrag von Amsterdam wortgleich übernommen (ex-Art. 301 EGV-Nizza, bzw. zuvor ex-Art. 228 a EGV-Maastricht). Der Vertrag von Lissabon hatte dann lediglich eine kleine Erweiterung der Vorschrift zur Folge, die den Anwendungsbereich auf Finanzbeziehungen zu Drittländern erweiterte. Die Erweiterung der Möglichkeit, Wirtschaftssanktionen auch gegen Organisationen oder einzelne Personen zu verhängen (Abs. 2 und 3) ist insbesondere auf die Anti-Terrorismus-Gesetze nach dem 11.09.2001 zurückzuführen.[4]

 

 

III. Verfahren

Die EU hat die ausschließliche Kompetenz für derartige wirtschaftliche Sanktionen.[5] Die Voraussetzungen zur Verhängung von Wirtschaftssanktionen finden sich in Art. 215 AEUV. Der Artikel spricht von restriktiven Maßnahmen – dies meint hier allerdings Sanktionen wirtschaftlicher Art.

Notwendig ist zunächst ein sogenannter GASP-Beschluss nach Titel V Kapitel 2 EUV. In Frage kommen insbesondere Beschlüsse nach Art. 28 oder 29 EUV. Restriktive Maßnahmen werden durch den Rat im Rahmen der GASP beschlossen und müssen im Einklang mit den in Art. 21 EUV genannten Zielen der GASP stehen. Inhaltlich muss der GASP-Beschluss ein Tätigwerden der Union und nicht ein bloß abgestimmtes Handeln der Mitgliedstaaten vorsehen. In der Praxis wird dann oftmals folgende Formulierung genutzt: „Die Gemeinschaft muss tätig werden, um bestimmte Maßnahmen umzusetzen.“

Diese Vorgehensweise ist zwingend, denn Wirtschaftssanktionen sind ihrerseits Folge einer politischen Entscheidung im Rahmen der GASP, sodass die Mitwirkung der Organe gegeben und zum Ausdruck gebracht werden muss.

 

Maßnahmen werden gemäß Art. 215 Abs. 1 AEUV auf gemeinsamen Vorschlag des Hohen Vertreters der Union für Außen- und Sicherheitspolitik und der Kommission durch den Rat erlassen. Er unterrichtet hierüber das Europäische Parlament. Die bloße (nachträgliche) Unterrichtung entspricht hierbei strukturell dessen beschränkter Beteiligung im Rahmen der GASP, vgl. Art. 36 EUV.

 

Besonderheit ist hierbei, dass derartige Maßnahmen nach Art. 215 AEUV im Gegensatz zu den Leitlinien der GASP mit qualifizierter Mehrheit im Rat beschlossen werden. Dies bedeutet, dass nach Art. 16 Abs. 4 und 5 EUV i. V. mit Art. 3 des Protokolls (Nr. 36) über die Übergangsbestimmungen eine Mehrheit von mindestens 55 % der Mitglieder des Rates, gebildet aus mindestens 15 Mitgliedern, sofern die von diesen vertretenen Mitgliedstaaten zusammen mindestens 65 % der Bevölkerung der Union ausmachen. Einstimmigkeit im Rahmen der Abstimmung ist auch dann nicht erforderlich, wenn sie im Rahmen der GASP gefordert wird.[6]


Die Rechtsfolge ist, dass die Wirtschaftsbeziehungen zu einem oder mehreren Drittländern ausgesetzt, eingeschränkt oder vollständig eingestellt werden können (Abs. 1), oder restriktive Maßnahmen gegen natürliche oder juristische Personen sowie Gruppierungen oder nichtstaatliche Einheiten eingeführt werden können (Abs. 2). Insbesondere die nach Abs. 2 noch nicht allzu lang vorgesehenen sogenannten „smart sanctions“ sind ein effektives Werkzeug, um Maßnahmen gegen einzelne, einen Staat unterstützende Personen oder Organisationen zu richten. Hintergrund ist, dass man nachteilige Auswirkungen für diejenigen, die nicht für die Politik oder die Handlungen, die zur Verhängung von Sanktionen geführt haben, verantwortlich sind, möglichst gering halten möchte. Insbesondere ist es Ziel der EU, die Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung vor Ort oder auf rechtmäßige Aktivitäten in oder mit dem betroffenen Land auf ein Mindestmaß zu beschränken.

 

Beachtenswert ist in diesem Zusammenhang allerdings die hohe Fluktuation bei der Belastung derartiger Maßnahmen auf Einzelpersonen. So wurde allein die VO (EG) Nr. 881/2002 des Rates zur Einfrierung von Geldern von Personen und Organisationen, die mit Osama bin Laden, dem Al-Qaida-Netzwerk und den Taliban in Verbindung stehen, bis Anfang Juli 2010 130-fach novelliert.[7]

 

Insgesamt ist die EU daher im Rahmen ihrer Befugnisse frei, die jeweils für notwendig erachteten wirtschaftlichen Sanktion zu wählen. Beispielhaft können diesbezüglich Einfuhrverbote gegen Staaten oder das Einfrieren von Konten bei einer Maßnahme gegen einzelne Personen genannt werden.

 

Derzeitige mit Maßnahmen belegte Länder finden sich unter:

https://www.consilium.europa.eu/de/policies/sanctions/.

 

Einen Überblick über alle derzeitig verhängten EU-Sanktionen sind auf dieser Karte überblicksartig dargestellt:

www.sanctionsmap.eu

 

 

IV. Rechtsschutz

Durch die Möglichkeit, einzelne Personen mit Sanktionen zu belegen, stellt sich die Frage nach dem Rechtsschutz des Einzelnen. Das Spannungsfeld zwischen den mit einer Sanktion belegten Person, die zunächst (oftmals) nicht unmittelbar verantwortlich ist für die Politik eines Staates und dem Interesse der EU an einer effektiven Durchsetzung ihrer Ziele, gilt es im Wege eines rechtlichen Verfahrens aufzulösen. Art. 215 Abs. 3 AEUV legt daher fest, dass auch die erforderlichen Bestimmungen über den Rechtsschutz in den Rechtsakten genannt werden müssen.

 

Dabei ist herauszustellen, dass sich die Kontrollkompetenz des EuGH grundsätzlich nicht auf den Bereich GASP erstreckt, da es sich um eine rein politische Entscheidung handelt (vgl. Art. 24 Abs. 1 UAbs. 2 S. 6 EUV, Art. 275 Abs. 1 AEUV). Der Gerichtshof ist jedoch zuständig für die Kontrolle der restriktiven Maßnahmen gegenüber natürlichen und juristischen Personen (vgl. Art. 24 Abs. 1 UAbs. 2 S. 6 aE EUV, Art. 275 Abs. 2 AEUV). Nach der Rechtsprechung muss der jeweilige Rechtsakt „Garantien hinsichtlich der Beachtung der Grundrechte“ der im Einzelnen angeführten Personen enthalten. Zu gewährleisten ist insbesondere der Anspruch des Betroffenen auf rechtliches Gehör.[8]

 

Insbesondere bezüglich Letzterem hatten Klagen gegen Maßnahmen bereits Erfolg. Der EuGH hob beispielsweise Maßnahmen gegen Personen auf, denen vorgeworfen worden war, der Taliban nahe zu stehen, mit der Maßgabe auf, dass den Betroffenen die Gelegenheit gegeben werden müsse, sich zu den gegen sie erhobenen Vorwürfen – wie z.B. Terrorismus, Geldwäsche, etc. – zu äußern und sie gegebenenfalls zu widerlegen.[9] Insoweit kann also festgestellt werden, dass gerichtlicher Rechtsschutz, insbesondere wegen Verletzung der Grundrechte, erlangt werden kann.

 

V. Konsens in außenpolitischen Fragen

Nach alledem stellt sich die lebhaft diskutierte Frage hinsichtlich einer Konsensentscheidung in der Außenpolitik der EU. Im Wesentlichen geht es hierbei um die Frage, ob im Interesse einer effektiveren Umsetzung außenpolitischer Ziele auf die einheitliche Abstimmung im Rahmen von GASP-Beschlüssen verzichtet werden sollte. Auf der anderen Seite sehen kleinere Mitgliedstaaten die Gefahr, dass ihre Position möglicherweise marginalisiert werden könnte und Entscheidungen tatsächlich nur durch große Mitgliedstaaten getroffen werden könnten.[10]

 

Erkennbar ist nach dem Vorgenannten, dass die Verhängung von Wirtschaftssanktionen ein höchst komplexes Themenfeld ist, welches die Bündelung verschiedener politischer Interessen zum Gegenstand hat. Allein die Einbeziehung der verschiedenen Organe der EU innerhalb des Verfahrens lässt erkennen, dass dies auch in den Verträgen Berücksichtigung findet.

Die hier vorgesehene qualifizierte Mehrheit lässt allerdings einen weiten Spielraum erkennen, wenngleich die Möglichkeit der Erlangung gerichtlichen Rechtsschutzes des Einzelnen eine nachträgliche Kontrolle ermöglicht.

 

Inwieweit sich die Abstimmungsmodalitäten daher ohne Weiteres auf die vorgelagerten GASP-Beschlüsse übertragen lässt, ist folglich sehr fraglich und vermag hier nicht abschließend geklärt zu werden. Diese allein politischen Entscheidungen bewegen sich im Kernbereich der EU, deren Fundament auch aus der Integration kleinerer Mitgliedstaaten besteht.

 

VI. Fazit

Insgesamt ist die Möglichkeit der EU, Wirtschaftssanktionen zu verhängen, ein starkes Schwert, da wirtschaftliche Sanktionen spürbare Einschränkungen sowohl für die betroffenen Staaten als auch für den Einzelnen haben. Die Diskussion der Einheitlichkeit im Rahmen von GASP-Beschlüssen wird im Lichte der Wirtschaftssanktionen etwas abgemildert, wenn man den Standpunkt vertritt, dass die EU diesbezüglich handlungsunfähig ist, da derartige Sanktionen schon mit qualifizierter Mehrheit beschlossen werden können. Sollten sich jedoch vereinzelt Mitgliedstaaten im Rahmen der einheitlichen Beschlüsse querstellen, die Menschenrechtsfragen berühren, so wird die Diskussion wohl nochmal Fahrt aufnehmen. Die EU wird sich somit ein Prozedere überlegen müssen, das jegliche Interessen berücksichtigt. Die Änderung des Abstimmungsverfahrens würde freilich voraussetzen, dass die Mitgliedstaaten eine Vertragsänderung anstrengen. Dies wird indes erst die Zukunft zeigen.

 


 

[1] https://europa.eu/european-union/topics/foreign-security-policy_de (zuletzt aufgerufen am 25.08.2021).

[2] Pechstein/Nowak/Häde, Frankfurter Kommentar EUV/GRC/AEUV/Schöbener, 1. Aufl. 2017, AEUV Art. 215 Rn. 1

[3] Streinz/Kokott, 3. Aufl. 2018, AEUV Art. 215 Rn. 1

[4] Überblick zu alledem bei Groeben, von der/Schwarze/Marc Bungenberg, 7. Aufl. 2015, AEUV Art. 215 Rn. 4)

[5] Streinz/Kokott, 3. Aufl. 2018, AEUV Art. 215 Rn. 7 mit Herleitung und weiteren Nachweisen.

[6] Vgl. statt vieler Calliess/Ruffert/Cremer, 5. Aufl. 2016, AEUV Art. 215 Rn. 13.

[7] Vedder/Heintschel von Heinegg, Europäisches Unionsrecht, AEUV Art. 215 Rn. 32 mit weiteren Nachweisen.

[8] Zum Ganzen mit weiteren Nachweisen aus der Rspr.: Streinz/Kokott, 3. Aufl. 2018, AEUV Art. 215 Rn. 32 ff.

[9] EuGH, Rs. C-415/05 P, Kadi/Rat, Slg. 2008, I-6351 Rn. 326 ff. (EU:C:2008:30).

[10] Überblicksartige Darstellung der vertretenen Auffassungen: https://www.bundestag.de/presse/hib/808806-808806 (zuletzt aufgerufen am 06.08.2021).