Dieser Beitrag behandelt die Frage, welchen Wert der Raum ohne Binnengrenzen innerhalb der EU hat und unter welchen Voraussetzungen Binnengrenzkontrollen anlässlich des Flüchtlingssturms ausnahmsweise wieder eingeführt werden könnten.
Am 14. Juni 1985 unterzeichneten Vertreter Deutschlands, Frankreichs, Belgiens, der Niederlande und Luxemburgs im deutsch-französisch-luxemburgischen Dreiländereck bei Schengen (Luxemburg) auf der Obermosel auf dem Fahrgastschiff Princesse Marie-Astrid das Schengener Übereinkommen. Für dieses historische Ereignis wurde Schengen ausgewählt, da es einen Knotenpunkt in der Mitte Europas bildet. Dieser Ausgangspunkt des sog. Schengen-Raums hat seine letzte Überarbeitung 2006 erfahren durch den sog. Schengener Grenzkodex[1] (im Folgenden: Grenzkodex). Gemäß Art. 22 dieses Grenzkodexes gilt, was für viele Europäer selbstverständlich ist: Die EU-Binnengrenzen können unabhängig von der Staatsangehörigkeit der betreffenden Personen an jeder Stelle ohne Personenkontrollen überschritten werden dürfen. Einschränkungen dieses Grundsatzes sind demnach rechtfertigungsbedürftig. Diesbezügliche Ausnahmevorschriften finden sich im Grenzkodex anhand derer sich auch die Schließung aufgrund eines etwaigen Flüchtlingsstromes messen lassen müsste.
Ein vollendeter Binnenmarkt ist ein wesentliches Ziel der Union. So schreibt Art. 26 Abs. 1 AEUV vor, dass die Union die notwendigen Maßnahmen nach den Bestimmungen der Verträge vornimmt, um den Binnenmarkt zu verwirklichen beziehungsweise dessen Funktionieren zu gewährleisten. Wesentlicher Teil dieses Binnenmarktes sind die sogenannten Grundfreiheiten. Dazu gehören die Warenverkehrsfreiheit, die Arbeitnehmerfreizügigkeit, die Niederlassungs- sowie die Dienstleistungsfreiheit und die Kapital- und Zahlungsverkehrsfreiheit, also verschiedenste Bereiche des Wirtschaftsleben. So ist es dem Bürger beispielsweise möglich, Tomaten aus Spanien oder Wein aus Italien zu konsumieren, ohne dass Zollgebühren oder sonstige tarifäre Handelshemmnisse den Kaufpreis für den Verbraucher wirtschaftlich betrachtet erhöhen (Warenverkehrsfreiheit). Grundsätzlich ohne weiteres kann ein Mitarbeiter von Airbus in Hamburg zu Airbus in Toulouse wechseln (Arbeitnehmerfreizügigkeit). Zum Urlaub nach Kroatien ohne zeitaufwendiges Visum und lange Kontrollen an der Grenze ist dank der negativen Dienstleistungsfreiheit kein Problem. An diesen bei Weitem nicht abschließenden Beispielen wird deutlich, welche überragende Bedeutung ein Binnenmarkt ohne Grenzkontrollen für jeden Einzelnen hat.
Zwar stehen nationale Grenzkontrollen, wie sie auch vor der Zeit des Schengen-Raums durchgeführt wurden, Grenzübertritten bei wirtschaftlich geprägten Sachverhalten i. S. d. Grundfreiheiten nicht per se entgegen. Denn die Grenze darf dann grundsätzlich nach wie vor überquert werden (siehe deklaratorisch: Art. 3 lit. a) Grenzkodex).
Gleichwohl ist zu beachten, dass die Grundfreiheiten nach dem EuGH allgemeine Beschränkungsverbote darstellen.[1]Danach sind bereits dem Grunde nach potentiell handelsbeschränkende staatliche Handelsregelungen verboten.
Dem stehen Grenzkontrollen im Binnenraum entgegen, da sie Zeit kosten und die Inanspruchnahme der Grundfreiheit unattraktiver machen. Dass Dimensionen der Grundfreiheiten existieren, deren Ausübung durch Personenkontrollen an den Grenzen nicht tangiert werden[2], wie etwa bei grenzüberschreitenden Fernsehübertragungen (Korrespondenzdienstleistungsfreiheit) ändert hieran nur zu Teilen etwas. Denn die weit überwiegenden von den Grundfreiheiten erfassten Sachverhalte setzen ein physisches Überschreiten einer Staatsgrenze durch eine Person voraus.[3]
Zwar kann man der marktbeschränkenden Wirkung dergestalt begegnen, dass man genügend Zöllner parallel arbeiten lässt.[4] Das ändert im Ergebnis aber nichts an der für den Binnenmarkt nachteiligen Wirkung. Zum einen ist allein die – wenn auch schnelle – Kontrolle für sich schon hinderlich. Zum anderen ist auch die Praxisumsetzung dieser Idee nicht stets vollkommen möglich, bedenkt man Krankheitsfälle des Zollpersonals, plötzliche Anstürme an den Grenzstationen etc. Bestätigt wird diese Argumentation durch einen Blick auf die Zeit, bevor die nationalen Grenzkontrollen abgeschafft wurden: Gemäß dem Cecchini-Bericht ist der durch Grenzkontrollen entstandenen finanzielle Mehraufwand für Unternehmen im Jahr 1987 auf rund 8 Mrd. Euro zu beziffern.[5]
Das Ausmaß auch nur vorübergehender Grenzkontrollen in der heutigen Zeit lässt sich mit Blick auf eine Bertelsmann-Studie aus dem Jahr 2016 erahnen. Danach wären bei nationalen Grenzschließungen für die EU bis zum Jahr 2025 Wachstumsverluste von sage und schreibe 470 Mrd. Euro zu erwarten.[6] Die Kommission schätzt die Kosten für eine einjährige Suspendierung des Schengen-Systems auf 5 bis 18 Mrd. EUR. Auch würde laut France-Stratégie, dem Studienbüro des französischen Premierministers, der grenzüberschreitenden Binnenhandel bei dauerhaften Schließungen um mindestens 10 Prozent verringert.[7]
Daneben ergäbe sich ferner für Verbraucher eine stärkere finanzielle Belastung. Zum einen würden die Kosten der Unternehmen auf sie umgelegt,[8] und zum anderen schlugen die den Staatshaushalt belastenden Grenzkontrollen schon vor Schengen mit Kosten i. H. v. 500 Mio. bis 1 Mrd. Euro zu Buche, was letztlich den europäischen Steuerzahler träfe.[9] Diese Belastung der Verbraucher steht in gewisser Spannung zum EU-Ziel auch des Art. 3 I EUV, wonach das „Wohlergehen ihrer Völker zu fördern“ ist. Denn diesem programmatischen Satz, der durch die Folgeabsätze des Art. 3 EUV, also auch durch das Binnenmarktziel des Art. 3 III 1 EUV, konkretisiert wird[10], ist auch die wirtschaftliche Förderung[11] des Unionsvolks zu entnehmen.
Nach Art. 21 Abs. 3 in Verbindung mit Art. 29 Abs. 1 Grenzkodex können – verkürzt dargestellt – Kontrollen an den Binnengrenzen eingeführt werden bei andauernden schwerwiegenden Mängeln an der EU-Außengrenze, sofern diese eine ernsthafte Bedrohung der öffentlichen Ordnung oder der inneren Sicherheit darstellen. Schwerwiegende Mängel an den EU-Außengrenzen wurden beispielsweise 2015 während des großen Flüchtlingsstroms bezüglich der griechischen Außengrenzen diskutiert. Binnengrenzkontrollen sind insofern maximal zwei Jahre zulässig.
An der formellen Rechtmäßigkeit der Grenzkontrollen bestehen keine Zweifel. Sie sind auch materiell rechtmäßig, wenn sie den Voraussetzungen des Art. 23 I 1 entsprechen.
Im Kern bedarf es dafür einer ernsthaften Gefährdung der Schutzgüter öffentliche Ordnung und innere Sicherheit. Festzustellen ist hierbei zuvörderst, dass den Bereichen der öffentlichen Ordnung und inneren Sicherheit eine unionautonome Auslegung zugrunde gelegt werden muss[12], um die Einheitlichkeit des Unionsrechts zu gewährleisten und national missbräuchlich vorgenommenen Definitionsversuchen vorzubeugen.
Ob hierbei eine enge oder eine weite Auslegung geboten ist, wird indes unterschiedlich beurteilt. Im Kern geht es um die Deutung des primärrechtlichen Art. 72 AEUV, dessen Gehalt vom sekundärrechtlichen GKodex aus gesetzeshierarchischen Gründen zu beachten ist. Teilweise wird angebracht, dass es sich um Rechtfertigungsgründe ähnlich den in den Grundfreiheiten vorgesehenen Ausnahmen (Art. 36 S. 1, Art. 45 III, Art. 52 I ggf. i. V. m. Art. 62, Art. 65 I lit. b AEUV) handelt.[13] Folgte man dem, müsste man Art. 72 AEUV eine restriktive Auslegung i. S. d. singularia non sunt extendenda-Grundsatzes[14] zugrunde legen, um das Regel-Ausnahme-Verhältnis nicht umzukehren. Hierfür lässt sich anführen, dass (weitere) Durchbrechungen des RFSR, wie sie z. B. durch das Ausnahmevorschriften enthaltende Protokoll Nr. 21 zum EUV erfolgt sind, nicht im Unionsinteresse liegen.[15] Eine solche Argumentation wird man normativ am effet utile (Art. 4 III EUV) verorten können. Angeführt wird letztlich auch, dass Art. 72 AEUV nicht zu einem allgemeinen Vorbehalt der gesamten EU-Politik über Justiz und Inneres verkommen dürfe.[16]
Nach anderer Ansicht ist Art. 72 AEUV ein souveränitätsschonender Auslegungsmaßstab zugrunde zu legen.[17] Diese extensive, die nationalen Interessen weiter in den Vordergrund rückende Auslegung ist vorzugswürdig. Denn Art. 72 AEUV ist nicht als Ausnahmetatbestand konzipiert, sondern dient entsprechend seiner Stellung im RFSR der Wahrung originär nationaler Zuständigkeiten.[18] Der Verweis auf eine enge Auslegung im Rahmen der Grundfreiheiten trägt für sich genommen bereits schon deshalb nicht, weil der RFSR insoweit als aliud gelten muss: dies folgt zum einen aus einer materiellen Sichtweise, wonach die Grundfreiheiten v. a. wirtschaftliche Sachverhalte im Blick haben; der RFSR hingegen soll „vor allem ein gemeinsamer Raum des Grundrechtsschutzes“[19] sein, vgl. auch Art. 67 I AEUV. Auch gewährt der RFSR keine subjektiven Rechte ähnlich den Grundfreiheiten, die durch eine Öffnungsklausel beschränkt werden.[20] Zum anderen sind die Grundfreiheiten formell dadurch vom RFSR abzugrenzen, dass sie jeweils einem eigenen Titel im AEUV zugeordnet und als eigenständige Ziele formuliert sind, Art. 3 II, III UA 1 S. 1 EUV.
Die damit alleinig verbleibende Gemeinsamkeit zu den Grundfreiheiten ist daher allein die Nutzung der Termini „öffentliche Ordnung“ und (innere) „Sicherheit“. Allein aus der Nutzung eines bestimmten Termini kann hier jedoch nichts zur Konzeption eines ganzen Tatbestandes gefolgert werden. Dass eingewandt wird, Art. 72 AEUV dürfe nicht zu einem allgemeinen Vorbehalt der gesamten EU-Politik über Justiz und Inneres werden, verkommt da- mit - sofern man dem inhaltlich überhaupt folgen will - zu einem allenfalls rechtspolitischen Argument. Selbst legitime Unionsinteressen wie die Beständigkeit von EU-Recht ändern daran nichts. Vielmehr wird hier die Stellung der Mitgliedsstaaten als Herren der Verträge deutlich; diese haben sich ihrer Souveränität insoweit nicht begeben.
Folge der zugrunde zu legenden weiten Auslegung ist, dass dem Berufen auf den effet utile (Art. 4 III EUV) ein gewisser Riegel vorgeschoben wird.[21] Daraus lässt sich bereits jetzt schlussfolgern, dass den Unionszielen Binnenmarkt und Währungsunion a priori Nachrang einzuräumen ist, sollte der Kernbereich des Art. 72 AEUV betroffen sein. Dies folgt auch aus der obigen Feststellung, wonach Art. 72 AEUV nicht als Öffnungsklausel konzipiert, sondern auf die Wahrung originär staatlicher Interessen ausgerichtet ist.
Bei der Frage, wie die unionsautonome Definition konkret zu formulieren ist, kann als Leitlinie auf die aus den Grundfreiheiten bekannten Formulierungen zurückgegriffen werden,[22] wobei auf die Besonderheiten des RFSR Rücksicht zu nehmen sein wird.
Die Öffentliche Ordnung ist danach einschlägig, wenn ein Grundinteresse der Gesellschaft tatsächlich und hinreichend schwer gefährdet wird.[23] Die innere Sicherheit wird berührt durch Gefährdungen staatlicher Einrichtungen und wichtiger öffentlicher Dienste sowie Notwendigkeiten für das Überleben der Bevölkerung.[24] Diese Definitionen sind mit dem GKodex inhaltlich dahingehend zu konkretisieren, dass die zwei genannten Schutzgüter „ernsthaft bedroht“ sein müssen, Art. 23 I 1.
Bei der Frage, wie die unionsautonome Definition konkret zu formulieren ist, kann als Leitlinie auf die aus den Grundfreiheiten bekannten Formulierungen zurückgegriffen werden,[25] wobei auf die Besonderheiten des RFSR Rücksicht zu nehmen sein wird.
Die Öffentliche Ordnung ist danach einschlägig, wenn ein Grundinteresse der Gesellschaft tatsächlich und hinreichend schwer gefährdet wird.[26] Die innere Sicherheit wird berührt durch Gefährdungen staatlicher Einrichtungen und wichtiger öffentlicher Dienste sowie Notwendigkeiten für das Überleben der Bevölkerung.[27] Diese Definitionen sind mit dem GKodex inhaltlich dahingehend zu konkretisieren, dass die zwei genannten Schutzgüter „ernsthaft bedroht“ sein müssen, Art. 23 I 1.
Im Berichtsjahr 2015 wurden 441 899 Erstanträge auf Asyl und internationalen Schutz von Deutschland entgegengenommen.[28] Im Vergleich zum Jahr 2014 stellt dies eine Steigerung der Antragszahlen von 155,3 Prozent dar.[29] Eingereist sind 2015 sogar fast 600 000 Flüchtlinge.[30] Allesamt Zahlen an unregistrierten Neuankömmlingen, wie sie der Schengen-Raum noch nicht erlebt hat.
Bereits 2013, also noch vor dem Kulminationspunkt der Flüchtlingszahlen in der EU wurden in Deutschland 129 995 illegal Einreisende entdeckt.[31] Diese Zahl zeigt die Gefahr der illegalen Migration unter dem Deckmantel des Flüchtlingsstroms. Dies ist ein Aspekt, den man in einem normgeprägten Raum wie Deutschland wird anführen müssen, um Grenzkontrollen zu rechtfertigen. Und zwar mindestens solange, bis die Außengrenze wieder hinreichend gesichert ist und dieser Gefahr durch Registrierungen der Einreisenden bereits dort zumindest partiell begegnet werden kann.
Sofern die Flüchtlinge nicht untertauchen, sondern Asyl beantragen, wird man die Überlastungssituation anführen können. Zwar wird man nicht umhinkommen, den für über 80 Mio. Einwohner ausgerichteten großen Staatsapparat Deutschlands ein gewisses Maß an Belastung abzuverlangen. Das ergibt sich im Grundsatz auch aus einer Vereinbarung der Schengen-Staaten, wonach Einwanderungsströme nicht per se als Rechtfertigung für die Einführung von Grenzkontrollen herhalten sollen.[32] Gleichwohl wird man einschränkend berücksichtigen müssen, dass es sich bei dem Flüchtlingsproblem um eine „Jahrhunderaufgabe“[33] handelt, die bei Einführung des Schengenraums in dieser Dimension nicht absehbar war. Auch deshalb hat man sich letztlich mit der öffentlichen Ordnung und Sicherheit unbestimmter Rechtsbegriffe bedient, die man als Tribut für das begrenzte menschliche Erkenntnis- und Definitionsvermögen ansehen muss,[34] und damit wie gemacht für solche „Jahrhundertaufgaben“. So befinden sich in Deutschland aktuell rund 370 000 Flüchtlinge, die noch keinen entsprechenden Antrag auf Asyl stellen konnten.[35] Dies, obwohl die deutschen Behörden 2015 155,3 Prozent mehr Anträge entgegen genommen haben als 2014.[36] Das zeigt exemplarisch die großen Anstrengungen des deutschen Staatsapparats.
Des Weiteren erfasst die Überlastungssituation auch eine Integrationsproblematik. So fehlen z. B. über 2 000 Mitarbeiter in den Jobcentern, [37] um Flüchtlingen effektiv Arbeit zu vermitteln und so die Integration voranzutreiben. Den vorgenannten Personalmangel wird man aufgrund der notwendigen Ausbildung nicht von heute auf morgen beheben können. Durch die Grenzkontrollen kann diesen Problematiken allerdings allein schon dadurch partiell begegnet werden, dass die Einreiseverfahren strukturiert und effektiviert sowie die Belastungen für die zuständigen Staatseinrichtungen gestreut werden. Dass eine solche Kontrolle notwendig ist und nicht etwa eine Registrierung erst im Inland vorgenommen werden kann, zeigt das Beispiel München zu der Zeit vor den Grenzkontrollen. Dort waren die Behörden damit ausgelastet, die Versorgung der Menschen mit dem Nötigsten sicherzustellen.[38] Dagegen hinkte man bei der Registrierung hinterher.[39] Im Übrigen können an der Grenze unter Umständen in Betracht kommende Ausweisungen vorbehaltlich einer ggf. notwendigen Einzelfallprüfung unmittelbar an der Grenze ausgesprochen werden.[40] Damit kann der Überlastungs- wie auch der Integrationsproblematik begegnet werden.
Diese Effektivierung und Strukturierung durch die Grenzkontrollen bietet auch aus Unionssicht einen Vorteil. Denn so kann die Ermittlung des für die Prüfung von Anträgen auf Asyl und auf internationalen Schutz zuständigen Staats nach der Dublin III-VO[41] beschleunigt werden. Es ist dies ein wesentlicher Gedanke des Dublinsystems, den Zielstaat schnell zu ermitteln, Art. 21 I Dublin III-VO.[42]
Letztlich fördern Grenzkontrollen auch die Sicherheit sowohl der Flüchtlinge als auch der Anwohnern. Beispielhaft lässt sich dies an der 16 000 Einwohner großen, nahe der österreichischen Grenze befindlichen deutschen Stadt Freilassing darstellen. Hier sind zu Zeiten, als noch keine bzw. unstrukturierte Grenzkontrollen vorgenommen wurden, täglich bis zu 1 500 Flüchtlinge angekommen.[43] Innerhalb eines halben Monats hat sich die Einwohnerzahl demnach mehr als verdoppelt. Bei einer solch unübersichtlichen Gemengelage wird es erheblich erschwert, für Sicherheit und Ordnung zu sorgen. Vor allem, weil Freilassing gerade als Kleinstadt nicht auf eine solche Situation eingestellt ist und demnach keinen entsprechenden Polizeiapparat hat. Hier wird man die sozialen Unruhen innerhalb Deutschlands zugrundelegend zweifeln müssen, ob die Sicherheit sowohl der Flüchtlinge als auch der Einheimischen ausreichend geschützt werden kann.
Einschränkend wird man noch bedenken müssen, dass die Flüchtlingszahlen an der deutschen Grenze momentan stark abgenommen haben.[44] Dies wird man auf die Kältemonate und v. a. auf die aktuelle Schließung der Balkanroute zurückführen können.[45] Einer solchen nur temporären Unterbrechung wird man jedoch nicht pauschal die Abstellung von Grenzkontrollen folgern können. Das lässt sich exemplarisch mit den Erfahrungen zwischen Weihnachten und Silvester 2015 begründen. Während dieses Zeitraums sind die Flüchtlingszahlen auch sehr niedrig gewesen, anschließend jedoch schlagartig wieder angestiegen.[46] Unter Berücksichtigung des eingeräumten weiten Ermessens wird man Deutschland die momentan abnehmenden Flüchtlingszahlen zumindest noch nicht entgegnen halten können. Abschließend wird Deutschland beachten müssen, wie sich die EU-Türkei-Vereinbarung vom 18.3.2016 auf die noch defizitären Außengrenzkontrollen Griechenlands auswirkt. Durch die vereinbarte Aufstockung des Grenzpersonals an dieser Grenze und durch die wohl abschreckende Wirkung, die das Zurückholen der illegal von der Türkei nach Europa reisenden Flüchtlinge[47] bewirkt, steht ein gewisser Rückgang des Flüchtlingsstroms zu erwarten. Im Ergebnis wird man in den aktuellen Flüchtlingsströmen jedoch noch eine Gefährdung der öffentlichen Ordnung und inneren Sicherheit sehen müssen. Aufgrund der Vielschichtigkeit der Gefährdungen sind beide Schutzgüter als betroffen anzusehen.
Was Art. 23 I 1 mit „außergewöhnliche Umstände“ meint, wurde vom EuGH noch nicht thematisiert. Aus der deutschen Sprachfassung, wonach die Wiedereinführung von Kontrollen nur „unter außergewöhnlichen Umständen“ rechtmäßig sind, wird man durch die Nutzung der kausalen Präposition „unter“ eine eigenständige Bedingung für die Einführung von Grenzkontrollen erblicken müssen, die noch dazu qualifiziert, d. h. außergewöhnlich sein muss. Außergewöhnliche Umstände sind nach dem Wortlaut der deutschen Sprachfassung jedenfalls nicht bereits dann gegeben, wenn die öffentliche Ordnung oder die innere Sicherheit ernsthaft bedroht ist, weil es dann „unter [diesen] außergewöhnlichen Umständen“ heißen müsste. Vielmehr zeigt die hier dargestellte Wortlautgrenze, dass es sich dabei um eine eigenständige, den Tatbestand weiter einengende Restriktion handelt.
Zwar wird man bei der „Jahrhundertaufgabe“ Flüchtlingsstrombewältigung wohl von außergewöhnlichen Umständen sprechen können. Das kann hier jedoch dahinstehen, nimmt man die anderen Sprachfassungen des Art. 23 I 1 in Betracht. So heißt es im Französischen:
« […], cet État membre peut exceptionnellement réintroduire le contrôle aux frontières […].»
Hier ist die Rede davon, dass Grenzkontrollen „exceptionnellement“, d. h. ausnahmsweise[48] eingeführt werden können. Ein Nomen vergleichbar dem deutschen Wort „Umständen“ fehlt gänzlich.
Nun kommt zwar allen Rechtstexten der Union in allen Sprachfassungen Verbindlichkeit zu[49], vgl. auch den Gewohnheitsrecht[50] darstellenden Art. 33 I Wiener Vertragsrechtskonvention[51]. Indes ist bei divergierenden Sprachfassungen im Hinblick auf die Notwendigkeit einer einheitlichen Auslegung von Unionsrecht ein wertender Vergleich aller Sprachfassungen vorzunehmen.[52] Diesbezüglich ergibt sich folgendes Bild:
Sämtliche Sprachfassungen entsprechen in etwa den Ausführungen zum Französischen. Exemplarisch seien das Englische („exceptionally”), Italienische („in via eccezionale“[53]), Kroatische („iznimno“[54]) und Niederländische („bij wijze van uitzondering“[55]) genannt, wonach gemäß den Bedeutungszuschreibungen der Wörterbücher lediglich von „ausnahmsweise“ die Rede ist. Mit Hilfe von Wörterbüchern wurde auch ermittelt, dass sich in keiner anderen Sprachfassung ein Nomen befindet, das mit „Umständen“ i. S. d. Art. 23 I 1 vergleichbar ist.
Einzig die Übersetzung der spanischen Fassung spricht von „con[56]carácter[57] excepcional[58]“. Anhand der Bedeutungszuschreibungen des Wörterbuchs wird man dies mit „mit außergewöhnlichem Charakter“ o. ä. übersetzen können, sodass man eine punktuelle Parallele zum Deutschen annehmen und diese als maßgebliche Formulierung ansehen könnte.
Auch könnte man einwenden, dass anderen Sprachen die Nutzung eines solchen Termini fremd ist. Aber das ist nicht der Fall, wie ein vergleichender Blick zu Art. 26 I 1 belegt. So ist nicht nur in der deutschen Fassung des Art. 26 I 1 von „außergewöhnliche[n] Umständen“ die Rede, sondern auch zumindest ähnlich lautend z. B. in der französischen („circonstances exceptionnelles“)[59] oder der englischen Fassung („exceptional circumstances“)[60]. Das legt nahe, dass erst hier die Formulierung „außergewöhnliche Umstände“ gewollt ist. Zumal selbst die spanische Fassung erst hier von „circunstancias“[61] spricht, also von Umständen wie die deutsche Fassung. Damit wird die oben angeführte Parallele relativiert.
Bei einem Redaktionsfehler sieht der EuGH die abweichende Sprachfassung grds. als von vornherein unbeachtlich an und legt die Formulierung der übrigen Sprachfassungen zugrunde.[62] So wird man aufgrund der ähnlichen deutschen und spanischen Fassungen hier schwerlich argumentieren können.
Dass „ausnahmsweise“ der maßgebliche Wortlaut sein sollte, lässt sich jedoch auch damit begründen, dass nur die deutsche und spanische Fassung sich in Art. 23 GKodex des unbestimmten Rechtsbegriffs „außergewöhnliche/r Umstände/Charakter“ bedient; zumindest dann, wenn man - was bei solchen Begriffen regelmäßig diskutabel ist[63] - unterstellt, dass die deutsche Fassung gegen das Bestimmtheitsgebot (Art. 6 III EUV)[64] verstößt. Dann wäre der Passus „außergewöhnliche Umstände“ rechtswidrig und würde damit vom EuGH - so die Regel[65] - als nichtig erklärt. Demgegenüber lassen die adverbialen Formulierungen der anderen Sprachfassungen das Bestimmtheitsgebot unberührt, indem sie lediglich auf den Ausnahmecharakter von Grenzkontrollen hinweisen. Damit sind die ausländischen Sprachfassungen nach dem Prinzip ut res magis valeat quam pereat, wonach Wörter eher so zu verstehen sind, dass sie ihre Bedeutung eher erhalten denn verlieren,[66] vorzugswürdig.
Letztlich lässt sich dieses Ergebnis auch mit Art. 23 II 1 bestätigen. Dort wird der Ultima-Ratio-Charakter der Grenzkontrollen selbst in der deutschen Fassung hervorgehoben. Art. 23 I ist insoweit im Zusammenhang zu lesen und hebt diesen Charakter lediglich klarstellend hervor. Folglich muss die verbindliche Fassung des Art. 23 I 1 in der deutschen Sprachfassung wie folgt gelesen werden:
„[…], so ist diesem Mitgliedsstaat ausnahmsweise die Wiedereinführung von Kontrollen […] gestattet“. Ausnahmsweise kommt keine eigenständige Bedeutung i. S. e. Tatbestandsmerkmal zu, sondern betont wie Art. 23 II den Ultima-Ratio-Charakter der Vorschrift.
Die Einführung deutscher Grenzkontrollen ist nach Art. 23 I 1 momentan zulässig.
[1] Für die Warenverkehrsfreiheit: EuGH, Slg. 1975, 837 - Dassonville; für die Personenverkehrsfreiheiten: EuGH, Slg. 1995, I-4165 - Gebhard.
[2] Z. B. bei der Korrespondenzdienstleistungsfreiheit, Art. 56 AEUV, vgl. Haratsch/Koenig/Pechstein, EuropaR, Rn. 963.
[3] Lippert, Der grenzüberschreitende Sachverhalt im UnionsR, S. 66.
[4] So der scheidende Ifo-Chef Hans-Werner Sinn, vgl. Eckert, So teuer kommt Europa das Ende von Schengen, in: DIE WELT v. 5.3.2016, S. 17.
[5] Cecchini, Vorteil des Binnenmarkts, S. 28.
[6] Bertelsmann Studie: Abkehr vom Schengen Abkommen, Gesamtwirtschaftliche Wirkungen auf Deutschland und die Länder der Europäischen Union v. 2016, S. 12.
[7] Http://www.strategie.gouv.fr/sites/strategie.gouv.fr/files/atoms/files/cp-fs-rv-schengen_def.pdf, zuletzt abgerufen am: 11.3.2020.
[8] Cecchini, Vorteil des Binnenmarkts, S. 27.
[9] Cecchini, Vorteil des Binnenmarkts, S. 28.
[10] Terherchte, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Bd. I, Art. 3 EUV, Rn. 32, der auf den diesbezüglich allgemeiner formulierenden Kotzur, DÖV 2005, 313, 315, verweist.
[11] Vedder/Hentschel v. Heinnegg, Europ. Verfassungsvertrag, Art. I - 3 Rn. 6.
[12] Leible/Streinz, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Bd. I, Art. 36 EUV, Rn. 17.
[13] Weiß, in: Streinz, Art. 72 AEUV, Rn. 4.
[14] Schneider, in: JA 2008, 174.
[15] Weiß, in: Streinz, Art. 72 AEUV, Rn. 5.
[16] Ebd., Art. 72 AEUV, Rn. 5.
[17] Hoppe, in Lenz/Borchardt, Art. 72 Rn. 3.
[18] Frenz, Handb. EuropaR Bd. 6, Rn. 2800.
[19] Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat - Ein Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts im Dienste der Bürger (KOM/2009/0262, S. 5.
[20] Thym, in: Kluth/Heusch, Art 72 AEUV, Rn. 1 m. w. N.
[21] Breitenmoser/Weyeneth, in: v. der Groeben/Schwarze/Hatje, Bd. 2, Art. 72 AEUV, Rn. 5.
[22] Weiß, in: Streinz, Art. 72 AEUV, Rn. 6.
[23] EuGH, Slg. 1977, 1999, Rn. 33/35 - Bochereau.
[24] EuGH, Slg. 1984, 2727, Rn. 34 - Campus Oil.
[25] Weiß, in: Streinz, Art. 72 AEUV, Rn. 6.
[26] EuGH, Slg. 1977, 1999, Rn. 33/35 - Bochereau.
[27] EuGH, Slg. 1984, 2727, Rn. 34 - Campus Oil.
[28] Asylgeschäftsstatistik für den Monat Dezember 2015, Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, S. 2.
[29] Ebd., S. 2.
[30] Sander, Von wegen eine Million, in: die tageszeitung v. 12.3.2016, S. 4.
[31] Http:// www.bnd.bund.de/DE/Themen/Lagebeitraege /Migration/Migration_ node.html, zuletzt abgerufen am 23.3.2016.
[32] Communication from the Commission to the European Parliament and the Council, Eighth biannual report on the functioning of the Schengen area, 1 May -10 December 2015, v. 15.12.2015, S. 6.
[33] So die Formulierung von Astheimer/Pennekamp, Die Jahrhundertaufgabe, Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 19.9.2015, S. 19.
[34] Ossenbühl, in: Erichsen/Ehlers, § 10 Rn. 4.
[35] Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 5.3.2016, S. 6.
[36] Asylstatistik, s. Fn. 75, S. 2.
[37] Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 16.9.2015, S. 16.
[38] Http://www.spiegel.de/politik/deutschland/fluechtlingskrise-was-die-deutschen-grenzkontrollen-bedeuten-a-1052819.html, zuletzt abgerufen am 23.3.2016.
[39] Ebd., zuletzt abgerufen am 23.3.2016.
[40] Http://www.sueddeutsche.de/bayern/freilassing-polizei-weist-fluechtlinge-ab-1.2757143, zuletzt abgerufen am: 23.3.2016.
[41] Verordnung (EU) Nr. 604/2013 v. 26.6.2013, ABlEU 2013 Nr. L 180/31 v. 29.6.2013, S. 31.
[42] Das zeigt sich insb. daran, dass nicht jede Grundrechtsverletzung im Zielstaat diesem sog. Beschleunigungsgrundsatz entgegensteht, vgl. EuGH, Slg. 2011, I-13905, Rn. 82 - N. S. U. A.
[43] Http://www.br.de/nachrichten/freilassing-fluechtlinge-geschaefte-100.html, zuletzt abgerufen am 23.3.2016.
[44] Glas, Andreas/Kuhr, Daniela, Leere Grenzübergänge, in: Süddeutsche Zeitung v. 26.2.2016, S. R13 (München West).
[45] Bonner General-Anzeiger v. 3.3.2016, S. 4
[46] Süddeutsche Zeitung, s. Fn. 90, S. R13 (München West).
[47] Http://www.sueddeutsche.de/politik/abkommen-der-eu-mit-der-tuerkei-der-fluechtlingspakt-gilt-das-leid-der-menschen-haelt-an-1.2915204, zuletzt abgerufen am: 21.3.2016; wobei das Zurücknehmen illegaler Flüchtlinge durch die Türkei das Entgegennehmen eines syrischen Flüchtlings durch die EU beinhaltet.
[48] Oder mit „sehr“ übersetzbar, vgl. jew. Doucet/Fleck, Wörterb. FR, S. 384 - Stichwort: „exceptionnellement“.
[49] Schübel-Pfister, Sprache u. GemeinschaftsR, S. 470.
[50] Dörr, in: Dörr/Schmalenbach, WVK-Kommentar, Art. 33 Rn. 5.
[51] Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge v. 23.5.1969, BGBl. 1985 II, 926.
[52] EuGH, Slg. 1979, 2717, Rn. 6.
[53] „Ausnahmsweise“, vgl. Strambaci/Mariani, Wörterb. IT, S. 561 - Stichwort: „in via eccezionale“.
[54] „Ausnahmsweise“, vgl. Wörterb. Kroatisch, S. 49 - Stichwort: „iznimno“.
[55] „Ausnahmsweise“, vgl. Cox, Wörterb. NL, S. 1391 - Stichwort: „uitzondering“, Unterpunkt: „bij (wijze van) uitzondering“.
[56] „[M]it, inklusive, einschließlich“, vgl. Eichborn/Fuentes, Wirtschaftswörterb. Spanisch, Bd. 2, S. 179 - Stichwort: „con“.
[57] „Charakter, Erkennungszeichen, Merkmal, Schrift(zeichen)“, vgl. Eichborn/Fuentes, Wirtschaftswörterb. Spanisch, Bd. 2, S. 121 - Stichwort: „carácter“.
[58] „[A]ußerordentlich, vorzüglich, außergewöhnlich“, vgl. Eichborn/Fuentes, Wirtschaftswörterb. Spanisch, Bd. 2, S. 368 - Stichwort: „excepcional“.
[59] „[B]esondere Umstände“ nach Doucet/Fleck, Wörterb. FR, S. 384 - Stichwort: “circonstances exceptionnelles”.
[60] Außergewöhnliche Umstände.
[61] (Tat-)Umstand, vgl. http://de.pons.com/%C3%BCbersetzung?q=circunstancia&l=dees&in=ac_es&lf=de - Stichwort: circunstancia, zuletzt abgerufen am 23.3.2016.
[62] Das Urteil genauso interpretierend: Herrmann, in: Streinz, Art. 342, Rn. 35.
[63] Vgl. Geiger, ZVR 2009, 41, 42, der allerdings auch darauf hinweist, dass unbestimmte Rechtsbegriffe grds. zulässig sind.
[64] Hammer-Strnad, Bestimmtheitsgebot als allg. Rechts-Grds., S. 2.
[65] Ebd., S. 89.
[66] Schroeder, JuS 2004, 180, 186.