Das Europaparlament fordert Vertragsänderungen

Startschuss für einen Marathon

Lars Becker 22.11.2023

Gestern, sechzehn Jahre nach der letzten Vertragsänderung, hat das Europäische Parlament den Europäischen Rat aufgefordert einen Konvent einzuberufen. Ziel ist es die EU handlungsfähiger zu machen und die demokratische Qualität der EU zu stärken. Dies wird kein einfaches Unterfangen.

Die Europa-Union hat lange darauf gewartet, dass die Debatte um einen neuen Konvent kommt. Dass der Konvent kommt. Dass Konstruktionsfehler der EU, die zu oft ihre Handlungsfähigkeit schwächen, mit Vertragsänderungen behoben werden.

Die erste Hürde hierfür ist genommen. Das Europaparlament hat gestern umfangreiche Vertragsänderungen gefordert. Dabei stehen zwei Ziele im Mittelpunkt: die Stärkung der Handlungsfähigkeit und die Steigerung der demokratischen Qualität der Europäischen Union.


Europäisches Parlament

Der zentrale Hebel, um die Handlungsfähigkeit der EU zu erhöhen, ist die vom Parlament gewünschte Abschaffung zahlreicher Einstimmigkeitserfordernisse im Rat, die Vetos in Politikfeldern wie der Außenpolitik oder beim EU-Haushalt ermöglichen. Diese Vetos schwächen die Handlungsfähigkeit, zum Beispiel in dem sie zu verzögerten Entscheidungen über Sanktionen führten oder Gesetze ganz verhinderten, wie zum Beispiel bei der Einführung einer Digitalsteuer, in der einige Länder Angst um ihren Steueroasen-Charakter hatten. Polen und Ungarn drohten überdies regelmäßig mit Vetos bei Rechtsstaatsverfahren. Die angestrebte Erweiterung der EU wird perspektivisch zu einer EU mit mehr als 30 Mitgliedern führen, was die Risiken für Blockaden weiter mehren würde. Eine Erweiterung ohne Reduktion von Blockademöglichkeiten würde die EU empfindlich schwächen. Ein zentrales Anliegen der Europa-Union ist deshalb #NoVeto.

Ein weiteres zentrales Anliegen ist die Stärkung der demokratischen Legitimation. Ein wichtiger Ansatzpunkt ist die Wahl und Abwahl der Kommissionspräsidentin durch das Europäische Parlament. Die Führung der Kommission würde so, anders als derzeit, unmittelbar von den Wahlergebnissen abhängen, ohne das nationale Regierungen die Ergebnisse der Wahl bei der Zusammensetzung der Kommission ignorieren können. Dieses Ziel würde auch dadurch gestärkt, dass die Präsidentin in Zukunft Einfluss auf die parteipolitischen Zugehörigkeiten der Kommissarinnen nehmen könnte. Die Politik der Kommission würde so stärker von den Ergebnissen der Wahl abhängen. Dies stärkt die demokratische Legitimation des Parlaments, weil die derzeit im wesentlichen nur mittelbar gegebene Input-Legitimation unmittelbar durch die Wahlen entstehen würde und die „Accountability” gestärkt würde; da Wählerinnen eine Kommission abwählen könnten.

Dass der Konvent nun kommt, ist keineswegs sicher. Der Europäische Rat muss nun noch mit einfacher Mehrheit zustimmen. Ob diese Mehrheit zustande kommt ist derzeit noch offen. Ist diese Hürde genommen tritt der Konvent zusammen. Lange, schwierige Beratungen werden folgen, denn der Konvent sollte konsensfähige Vorschläge erarbeiten, da diese hinterher von allen 27 Mitgliedstaaten ratifiziert werden müssen.

Dabei werden nicht nur die üblichen Verdächtigen auf der Bremse stehen. Auch ein Tusk-geführtes Polen wird sich sperren und das niederschmetternde Wahlergebnis der Niederlande wird nicht helfen. Wie sehr die deutsche Regierung an ihrem Koalitionsvertrag, der viel föderalistische Lyrik enthält, am Ende wirklich festhalten wird, das wird sich zeigen. Bislang waren die institutionellen Themen primär Gegenstand von Sonntagsreden und Lippenbekenntnissen.

Deshalb gilt es jetzt, vor den Wahlen, allen Abgeordneten mitzugeben, dass sie sich für diese Ideen auch nach den Wahlen stark machen und auch bei heftigem Gegenwind den Kurs halten sollten. Dass sie ihre Forderungen auch in die nationalen Parteien tragen, an denen diese großen Ziele scheitern könnten. Auch hierzulande!

Die Entscheidung gestern, das war der Beginn eines Marathons. Hoffentlich sind wir gut genug im Training, um ihn bis zum Ende durchzuhalten.